Erwin Angreß

Von links:
Alexander Kogan, Erwin Angreß, Hubert Frankemölle, Renate Frankemölle-Stiller, Angelika Brimmer-Brebeck

Erwin Angreß

Im Arbeitslager am Grünen Weg in Paderborn’

Lassen. Sie mich zunächst zu einigen Begriffen etwas sagen, bevor ich vom Lager m Paderborn spreche. Es ist unangebracht, wenn man den 9. November als „Reichskristallnacht” bezeichnet. Meine Damen und Herren, der Begriff muß „Reichspogromnacht”. lauten, denn in dieser Nacht ist mehr kaputtge­schlagen worden als nur Kristall. Menschen sind zu Tode gefoltert worden, es wurden Geschäfte geplündert und dergleichen mehr. Insofern ist Kristall­nacht” ein falscher Begriff. Es ist auch nicht ganz richtig, wenn man nur von Konzentrationslagern spricht, denn in der Sprache der Nationalsozialisten heißt es: „Schutzhaftlager”. Bei jedem Zählappell in Auschwitz lautete die Meldung des Rapportführers: „Schutzhaftlager Auschwitz mit 10.000 Häftlin­gen angetreten – Stärke stimmt.” Das heißt also ironisch, wir Juden und die anderen Betroffenen wurden in Schutzhaft genommen, um uns vor der Bevölkerung zu schützen. In Wirklichkeit war das genau umgekehrt. Und ähnliches gilt für das Lager m Paderborn. Richtig muß es heißen „Arbeitslager”, nicht ,,Umschulungslager”.

  Nun lassen Sie mich kurz etwas zu meiner eigenen Person sagen. Mein Name ist Erwin Angreß. Ich bin am 16. Mai 1921 in Königshütte in Oberschlesien geboren, also in einer Zeit, in der 1921 der Aufstand in Oberschlesien stattfand und eine Abstimmung durch die Genfer Konvention erfolgte. Mein Vater hatte ein Geschäft in Hindenburg, und wie es damals für die deutschen Juden üblich war – nationalbewußt wie sie waren -, ist er dann von Königshütte nach Hin­denburg geflüchtet und hat für Deutschland optiert, während meine anderen Verwandten in Kattowitz bzw. in anderen oberschlesischen Gebieten geblieben und daher automatisch polnische Staatsbürger geworden sind. 1927 wurde ich mit sechs Jahren in die jüdische Volksschule in Hindenburg eingeschult und kam nach der Absolvierung von vier Grundschuljahren in die sogenannte Oberrealschule – heute sagt man neusprachliches Gymnasium. Mit der Ein­führung des Numerus clausus für die jüdischen Schüler wurde für mich ein Unterricht schon in der Obertertia unmöglich. Sie können sich vorstellen  wie sich ein Jugendlicher fühlt, der unter 600 anderen sogenannten arischen Schü­lern in der Schulpause isoliert dasteht. Insofern war der Abgang von dieser Schule vorprogrammiert. Mein weiterer Lebensweg sollte an und für sich nach Absolvierung des Abiturs zu einem Studium führen. Als das nicht mehr mög­lich war, waren noch jüdische Geschäfte vorhanden, und ich ging in die Lehre eines jüdischen Geschäftsmannes. Der Abschluß dieser kaufmännischen Lehre war mir nachher jedoch auch versagt, weil inzwischen der 9. November 1938 kam, die Reichspogromnacht, und somit alle jüdischen Geschäfte arisiert wurden. Danach habe ich mit meinem Vater, dessen Existenzgrundlage seit diesem Tag zerstört war, im Hoch- und Tiefbau gearbeitet. Wir bekamen zur damali­gen Zeit, weil ich noch nicht 18 Jahre alt war, nicht den vollen Lohn, sondern 38 Deutsche Reichspfennige. Sie können sich also vorstellen, was das für ein „kolossaler” Lebensunterhalt in unserer Familie gewesen ist. Am 25. August 1940 bin ich dann hier in das sogenannte Umschulungslager/Arbeitslager nach Paderborn eingewiesen worden, und zwar durch die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland mit Sitz in Berlin.

 Die Gründung der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland” erfolgte am 17 September 1933 als organische Zusammenfassung des gesamten Judentums Deutschlands. Als Zentrale für die Arbeit jüdischer Organisationen in Deutschland – von der Regierung bis zum Novemberpogrom 1938 mindestens geduldet, wenn nicht gar autorisiert und gefördert – lagen die Schwerpunkte ihrer Arbeit in der Einrichtung von kulturellen Institutionen für Erwachsene, in der Erziehung der Jugend und in der Organisation einer möglichst geordneten Emigration. Von 1939 an und mit der Umbenennung in „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland” wurde sie zu einem bloßen Instrument Reinhard Hey­drichs, Chef des Reichssicherheitshauptamtes und der SD.

 Lassen Sie mich an dieser Stelle einen weiteren führenden Mann des Systems nennen -Josef Goebbels -, an dem sich die Schizophrenie des nationalsozia­ listischen Geistes zeigen läßt: Alles unwerte Leben sollte vernichtet werden; die Herrenrasse – die Deutschen wollten ja damals eine Herrenrasse sein mit von Natur aus großen Leuten, blond, blauäugig wie Jung-Siegfried in der Nibelungensage – war das große Ideal. Aber wie wir wissen, war der Reichs­minister von Natur aus klein und hatte einen Klumpfuß. Man hat also unser unwertes Leben vergast, aber ihn hat man damals gebraucht. Bei einer genauen Betrachtung von Fernsehdokumentaraufnahmen werden Sie feststellen, daß man Goebbels gesamte Statur kaum zu sehen bekommt, sondern nur seine obere Hälfte. Aber ab und zu mußte er auch mal eine Front seiner alten Kame­raden abschreiten; das war, da man ja defilieren muß, für ihn mit seinem Klumpfuß sehr peinlich. Um jenen zu vertuschen, dictete man für ihn ein Lied, das beim Abschreiten der Front folgenden Takt hatte.² Aber die Menschen, die ähnliche Behinderung hatten, wurden einfach vergast.

 Meine Damen und Herren, ich bitte meinen Vortrag richtig zu verstehen. Ich möchte hier keine Verurteilung vornehmen. Ich möchte weder Haß säen noch sonst irgendetwas. Alles soll darauf ankommen, daß es am Ende eine Versöh­nung geben kann, eine Versöhnung ohne Haß oder sonstige Ressentiments! Denn wenn ich dieses Bestreben nicht hätte, könnte ich in der Bundesrepublik Deutschland, in der zu leben ich mich entschieden habe, einfach nicht leben.

 Zurück zum Arbeitslager in Paderborn und seiner Entstehung. Die Reichsver­einigung der Juden in Deutschland war spätestens von 1939 an ein ausführendes des Organ des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin. Was dieses anordnete, mußte die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland ausführen. Und so kamen auch die Transporte in die sogenannten „Arbeitslager” zustande. In diesem Lager in Paderborn (aber nicht nur in Paderborn – es gab im damaligen Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 noch viele andere Arbeitslager) hatte man jüdische Jugendliche einfach zusammengefaßt, um sie „umzuschulen”. Ich will Ihnen gleich nachher sagen, was das cigentlich für eine Bedeutung hatte.

 Dieses Lager in Paderborn am Grünen Weg wurde im Sommer 1939 errichtet, ungefähr im Juli. Das Lager, das aus vier Baracken bestand, war eingezäunt und hatte eine Pforte. Es unterstand der Aufsicht des damaligen SS-Hauptsturmführers in Paderborn, Otto Nagorny. Er war Schneidergeselle von Beruf. Seine Dienststellung war die eines Oberinspektors und städtischen Fuhrparkdirektors in Paderborn. Er war ein ganz berüchtigter und gefürchteter Mann, der nicht der Waffen-SS unterstellt war, sondern der Schwarzen SS, den Totenkopfverbänden. Im Lager in Paderborn befanden sich 70 männliche und 30 weibliche Personen. Sie mußten für die Stadt arbeiten, und zwar in der Straßenreinigung, bei der Müllabfuhr und beim Ausheben von Vorflutgräben. Außerdem haben sie auch nach 1940, als ich hier war, für Privatfirmen in Paderborn arbeiten müssen.

 Bevor ich im Jahre 1940 in das Lager in Paderborn eingewiesen wurde, sind von hier, aber auch aus anderen Lägern verschiedene Gruppen zusammengezo­gen worden. Sie wurden illegal über Konstanza, einem Hafen in Rumänien, in das damalige Palästina mit gecharterten alten Schiffen gebracht und konnten so gerettet werden. Dies geschah durch irgendwelche Vermittlungen, von denen auch die Gestapo gewußt hatte. Die Anlandung im damaligen Palästina war mit großen Opfern verbunden. Wie Sie wissen, war Palästina damals ein Mandats­ land. Es wurde von den Engländern verwaltet. Diese versuchten, die jungen Menschen nicht ins Land zu lassen. Die Einwanderer haben daraufhin damals zum Teil ihre Schiffe in die Luft gesprengt, so daß es bei der Anlandung sehr viele Opfer gegeben hat. Nach dem Weggang dieser Leute wurde das Lager in Paderborn – aber auch die anderen Läger – durch neue Personen aufgefrischt.

 Wie sah nun ein Tagesablauf im Lager am Grünen Weg aus? Wir mußten morgens zum  Appell in den Städtischen Fuhrpark, wo uns der bereits erwähnte Herr Nagorny, der wichtige Mann, zur Straßenreinigung und anderen Arbeiten einteilte. Nun muß ich vielleicht sagen, daß die Müllabfuhr damals Schwerstar­beit war. Die Müllabfuhr ging nicht so einfach vonstatten wie heute. Heute ist das an und für sich ein Kinderspiel. Damals wurde die Müllabfuhr noch mit Pferdewagen gemacht. Die Stadt Paderborn hatte 18 Pferde mit Müllwagen.  In diesen Wagen waren Löcher ausgespart, in die das Müllgut hineingeschüttet wurde. Wenn die Löcher voll waren, mußte nachgestochert werden. Anschlie­ßend fuhr der Pferdewagen zum heutigen Fußballplatz, wo die Schwimmoper steht -das war der erste Müllabladeplatz in Paderborn. Dort wurde der Wagen hochgekurbelt, die Pferde wurden angetrieben,  so daß der Müll herunterfiel. Da wir uns damals schon im Kriegszustand  befanden,  mußten Glasscherben, Blechkonserven  usw.  aus  diesem  Gut aussortiert  werden.  Es war eine sehr schmutzige und schwierige Aufgabe , ganz besonders für mich wegen meiner Kleinen Statur . Die Mülleimer und die Schlackeneimer , die vor der Verwaltung standen , waren sehr schwer , weil mit Koks gefeuert wurde . Die Eimer mußten hochgestemmt und eingefüllt werden . Besonders schlimm war es im Winter bei Schnee und Regen , wenn wir Holzschuhe trugen , die abgetreten waren und an denen der Schnec pappte . Außerdem erhielten wir keine richtige Verpflegung . Es war also eine sehr , sehr schwere Aufgabe . Man war … ja , was war man ? Ein Kuli ist nichts dagegen gewesen . Wir waren vogelfrei , wir mußten alles machen.

 Die Vorarbeiter dieser städtischen Kolonnen verhielten sich – so möchte ich mit einigen Vorbehalten sagen – uns gegenüber manches Mal sehr human. Es gibt, meine Damen und Herren, keine Kollektivschuld, und ich lehne auch eine Kollektivschuld ab. Es gab damals keine und es darf auch heute keine geben. Auch in Paderborn – das muß man auch einmal sagen – haben sich Menschen uns gegenüber sehr loyal verhalten, ganz besonders, als wir 1941 den Stern tragen mußten. Damals hat es in Paderborn Leute gegeben, die gesungen haben: „Stern von Rio, du sollst mein Schicksal sein.” Das hat es also auch gegeben. Es gab auch z. B. eine Bäckerei in der Ferdinandstraße, die uns für unsere Brotmarken auch einmal mehr Brote gegeben hat, als es uns zustand. Man muß gerechterweise sagen, daß es auch in Paderborn Menschen gegeben hat, die uns gern geholfen haben, auch wenn sie manches Mal berechtigterweise Angst hatten. Der damalige Hotelier Koch in der Liboristraße war ein Paderborner, der sich uns Juden gegenüber sehr anstädig verhielt. Er legte uns unter die Mülleimerdeckel Butterbrote und auch Zigaretten. Das war die in die gute Seite. Aber unsere Vorarbeiter, die waren die schlechteren; sie aben das „spitz bekommen”. Zwar haben sie die Butterbrote dagelassen, aber die Zigaretten haben sie einfach weggenommen.

 Unsere Verpflegung im Lager war sehr, sehr schlecht. Wir hatten einen Mann mit einem Fahrrad mit Anhänger, der brachte die Milchkannen mit dem Essen immer zu den Arbeitsstellen, an denen jüdische Arbeiter eingesetzt waren. Meistens bestand die Verpflegung aus “deutscher Ananas”, also aus Steckrüben und nochmals Steckrüben in allen Variationen, in Würfeln usw.

 Für die Privatfirmen in Paderborn hatten wir Bereitschaftsdienst zu leisten, auch sonntags. Dann wurden immer 40 Männer abgestellt. Während des Krieges mußte die Umschlagzeit der Eisenbahnwaggons schneller erfolgen . Die Stellzeit war auf 6 Stunden begrenzt . Wir arbeiteten bei verschiedenen Firmen . An dieser Stelle sollen Roß und Reiter benannt werden : Wir haben bei der Firma Nolting sowie bei anderen Firmen gearbeitet . Wir luden für sie am Hauptbahnhof Kohlen und Briketts aus , auch am Sonntag.  Diese wurden in Säcke verladen und gleich hausfertig gemacht . Zudem haben wir bei der Firma Stute gearbeitet . Nachts um 3 Uhr wurden Apfel aus Frankreich , die per Eisenbahnwagon angeliefert wurden, ausgeladen. Es haben ständing 10 Angehörige des Arbeitslagers bei der Firma Stute gearbeitet, wobei ich selbst vom 12. April 1942 bis zur Auflösung dieses Lagers dieser Firma zugeteilt war. Wir haben Apfelsaft gepreßt, wenn auch Fleischgeschmack darin war, und darüber hinaus Marmelade hergestellt. Diese Marmelade, die wir produziert haben, war eine sogenannte Vierfruchtmarmelade. Erst einmal wurden die Apfel durch eine Mühle gejagt, dann wurden sie gepreßt, dann wurde der Trester noch einmal mit dem Spaten zerhackt, dann erfolgte eine Nachpressung, Anschließend wurde dieser Apfeltrester noch einmal in Dampf gekocht, und davon wurde Apfelmus gemacht – daraus machte man nachher Marmelade. Es gab auch Konfitüre, z.B. Erdbeerkonfitüre. Sie wurde in zwei Schichten gegossen, und zwar mit Erdbeeren aus Ungarn, die schon gebleicht waren. Der Apfelsaft, der dort gepreßt wurde, wurde mit einem Ballon von 25 Liter Himbeersaft durchgesüßt. Er lief dann durch einen Filter, und durch einen Revolverhahn wurden die Flaschen abgefüllt. In einem Wasserdampfbad von 80° wurde der Saft anschließend konserviert. Nun können Sie sich ja vorstellen, daß beim Einkochen auch mal etwas zu Bruch geht. Und so kam es natürlich auch bei der Flaschenabfüllung. In solch einem Fall war dann etwas los. Und wehe, wenn bemerkt worden wäre, daß wir sommertags von diesem Apfelsaft etwas getrunken haben. Ich muß sagen, daß der Firmenchef dann ganz wild geworden ist. ganz wild. Es arbeiteten auch Frauen aus unserem Lager bei der Firma Stute, die die Flaschen etikettiert haben – damals wurde ja alles noch manuell gemacht. Nun kam es schon mal vor, daß so ein Etikett schief saß. Da ist man einfach hergegangen und hat mit den Flaschen nach den Frauen geworfen.

 Ich muß Ihnen sagen, wenn wir, die wir dieses Lager überlebt haben, nach 1945 nicht so tolerant gewesen, sondern von Haß erfüllt gewesen wären, dan hätte es manche Firma, die heute in Paderborn existiert, nicht mehr gegeben Diese Paderborner Firmen haben sich allerdings bis heute aus ihrer Verantwortung herausgestohlen. Zur Firma Stute: Weder der heutige Chef in Paderborn Ewald Stute (er war damals 12 Jahre alt und lief noch mit seiner Landsknechtstrommel herum) noch sein Bruder Werner, der heute in Seesen im Harz ein Konservenfabrik hat, haben bis heute – bis heute! – noch nicht einm gefragt, was sie tun können, wenigstens moralisch, wenn man überhaupt von Wiedergutmachung sprechen kann.³ Ein zweites Beispiel: die Firma Martin Noll: Wenn Sie einmal an die Warburger Straße gehen, sehen Sie stadtauswärts auf der rechten Seite einen Feuerlöschteich, den wir damals – wir die Sklave der Stadt Paderborn und der Firma Noll – ausgeworfen haben.  

 Zurück zum Lager: Der Herr Nagorny hat uns natürlich sehr bedroht. Ein Herr Kuttner, der bei uns im Lager war, hat sich mit seinem Kopf als Lagerleiter verbürgt, daß keiner aus diesem Lager irgendeinen Fluchtversuch unternahm. Aber wohin sollten wir auch flüchten? Als die Zeit immer weiter voranschritt und der Krieg härter wurde, kam am 27.2.1943 die Anweisung der Geheimen Staatspolizei, daß keiner mehr das Arbeitslager verlassen darf. Die Pforte wurde von der Polizei abgeriegelt. Drei Tage später kam dann die Auf­foderung,   aß jeder der Lagerinsassen 50 kg an Gepäck mitnehmen durfte. Wir marschierten dann vom Grünen Weg zum Kasseler Tor Bahnhof wo wir in zwei Waggos verladen wurden – ganz normale Eisenbahnwaggons. Wir wur­den nach Bielefeld gebracht und dort im Saal des Kyffhäusers einquartiert. Weitere Trnspore aus anderen Städten kamen in Bielefeld an. Nach drei Tagen wurden wir  an einen Zug, der aus Berlin kam, angehängt. Wir wurden mit unserem Gepäck in drei einfache Güterwaggons verladen – einschließlich aller 99 Lagerinsassen aus Paderborn. Dann ging die Reise nach Auschwitz. Mit Ausnahme von 9 Personen wurden alle ermordet. Das Arbeitslager am Grünen Weg endete nicht mit unserem Transport nach Bielefeld und Auschwitz  son­dern es existierte noch weiter. In Auschwitz haben wir schon nach 14 Tagen mmdestens 15% der ehemaligen Lagerinsassen durch Tod, durch Verzweiflung und  desgleichen  mehr  verloren.  Aus  dem Lager  Paderborn  haben  circa 10 männliche Personen überlebt, keine Frauen.

 Ein Wort zur Rolle der Katholischen Kirche. Es ist zwar ein schlechter Stil über Menschen zu sprechen, die verstorben oder nicht anwesend sind weil sie sich nicht verteidigen können. Aber in diesem Fall will ich jenes Tabu einmal brechen, um Ihnen mitzuteilen, was mich bedrückt. 1941 wurde mit Zustim­mung der Nazis seine Exzellenz Lorenz Kardinal Jäger in Paderborn inthroni­siert. Lorenz Kardinal Jäger (der nachher  sogar noch Eminenz wurde) war damals Divisionspfarrer im Range eines Majors. Ich muß schon sagen, ich bin enttäusch – nicht nur ich, auch andere -, daß dieser Mann nicht dem Evange­lium gemäß handelte, indem er uns gefragt hätte: Brüder, was kann ich in eurer Not tun? Vielleicht ein Wort bei der Gestapo einlegen oder vielleicht hier und da heimlich für euch etwas Essen besorgen?” Kein Wort desgleichen  kein Wort! Denn unser Buder Jesus von Nazareth oder unser Rabbi hat im Evange­lium nach Lukas nicht gesagt:  „Nur der ist der Nächste,  der das gleiche Gesangbuch hat, sondern jeder, der unter die Räuber gefallen ist, der in Not geraten ist und der Hilfsbereitschaft bedarf.” Und wir, meine Damen und Her­ren, waren in der damaligen Situation in Not. Wir haben von diesem Vertreter seiner Konfession erwartet, daß er hilft …

Aber dabei sollte es nicht bleiben. Auch nach 1945 wurde es nicht besser. Was tat der Kardinal, als im Jahre 1959, also heute vor 30 Jahren, unsere neue Syna­goge gebaut wurde? Dieser Mann hat bis zu seinem Tode die Schwelle unseres Gotteshauses niemals überschritten, niemals! Wenn ich das sage, habe ich kein Haßgefühl; sondern es erschüttert und betrifft mich zutiefst. Und die Stadt Paderborn -was tat sie nach dem Tode seiner Eminenz? Sie hatte nichts Eili­geres zu tun, als gleich nach seinem Tod aufgrund seiner sogenannten Verdienste – ich will nicht in Frage stellen, ob er welche hatte oder nicht – nach ihm eine Kardinal-Jäger-Straße zu benennen.

 Aber daß es hier ein jüdisches Waisenhaus in Paderborn gab, aus dem im Jahre 1942 20 jüdische Waisenkinder den Tod in Theresienstadt, Auschwitz und anderswo gefunden haben, wer nahm davon Notiz?’ Und wie ging es der Gründerin des Waisenhauses, Fanny Nathan? Sie, die am 2. April 1803 in Paderborn geboren wurde und es sich seit Gründung des Jüdischen Waisenhauses im Jahre 1856 bis zu ihrem Lebensende im Jahre 1877 zur Aufgabe gemacht hatte, sich für elternlose und arme jüdische Kinder einzusetzen, wurde schnell vergessen. Meine Bemühungen bei der Stadt, eine Straße nach dieser bedeutenden Frau zu benennen, waren außerordentlich anstrengend. Schließlich wurde eine kleine Straße auf dem Universitätsgelände nach ihr benannt – abgelegen und von der Bevölkerung Paderborns nicht benutzt. All dies ist sehr beschämend. Noch an anderen Erinnerungen aus der direkten Nachkriegszeit möchte ich Sie teilnehmen lassen. Wie Sie wissen, hat es im Jahre 1952 das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen gegeben. Was heißt „Wiedergutmachung“? Blut kann man mit Geld nicht kompensieren; man kann überhaupt nichts gutmachen. Mir wäre eine tiefgreifende moralische Wiedergutmachung viel lieber gewesen. Dann wäre mir wärmer ums Herz gewesen als bei diesem Gesetz. Wenn man überhaupt von Wiedergutmachung sprechen will, dann muß man sie in zwei Teile aufteilen. Beim Wiedergutmachungsabkommen verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland, dem Staat Israel eine globale Summe für die Eingliederungskosten überweisen, die durch die Ansiedlung jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland entstanden waren. Daneben gab es das Rückerstattungsgesetz von 1957. Hier ging es um die Rückerstattung von Vermögen oder von erbrachten Leistungen an Juden für Verluste in der nationalsozialistischen Zeit. Wie sah das konkret aus? Als wir, Herr Steinitz und ich, nach dem Krieg nach Paderborn zurückkehrten, haben wir an die Tür der Stadt Paderborn geklopft und gesagt: Also, wir sind jetzt wieder da. Wie sieht es eigentlich mit uns aus? Wir haben ja nichts bei euch verdient. Wir haben die Stunde 19 Pfennig bekommen. Das geht alles aus den Akten hervor. 19 Pfennig in der Stunde für zwei Mann. Davon mußten wir alles gemeinschaftlich bestreiten, gemeinschaftlich wurde gekocht und gegessen. Die einen blieben im Lager, um den ganzen Betrieb aufrecht zu erhalten, die anderen waren die Arbeitssklaven; sie gingen hinaus, um das Lager funktionieren zu lassen.

 Stadtdirektor von Paderborn war damals der Herr Sasse, heute ein Mann von über 80 Jahren. Politisch hat er, dies erlaube ich mir zu sagen, eine nicht ganz saubere Weste. Ich glaube, ganz sauber würde sie auch nicht mit dem Weißen Riesen und auch nicht mit Dalli-Dalli oder was auch immer. Was ich Ihnen hier sage, das können Sie mir durchaus abnehmen. Ich kann Ihnen das schwarz auf weiß belegen.  Auf einen Brief von uns hat dieser Stadtdirektor, der es ja hätte wissen müssen, einfach zurückgeschrieben: ,,Herrn Erwin Angreß Paderborn, Grunigerstraße 13.

 Unter Bezugnahme auf Ihre fernmündliche Anfrage vom 24.9.1954 teile ich Ihnen folgendes mit:

 Zwischen der Stadt Paderborn und der damaligen Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Abteilung Berufsausbildung und Berufsumschichtung, Berlin-Charlottenburg 2, Kantstr. 158, wurde am 23.6.1939 ein Vertrag geschlossen, nach dem die Reichsvertretung auf dem städtischem Gelände Grüner Weg 86 ein Arbeits- und Umschichtungslager für Juden errichtete. Zweck dieser Einrichtung war die Anlernung und Umschichtung von Juden zu körperlicher, vorwiegend landwirtschaftlicher und gärtnerischer Arbeit als Vorbereitung ihrer Auswanderung.

 Am 23.6.1941 wurde durch neuen Vertrag das genannte Lager Einsatzlager. Zweck dieses Lagers war, Juden im Dienste der Stadt oder sonstiger Arbeitgeber aus Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft zu beschäftigen”.

 Satirischer geht das wohl nicht mehr! 1940 wollte man uns zu körperlicher, landwirtschaftlicher Arbeit anlernen! Wo war die landwirtschaftliche Arbeit in Paderborn? In der Müllabfuhr? In den Vorflutgräben? Im Abfüllen der Kohle? Im Marmeladekochen? Als Straßenfeger? Und außerdem: Eine Auswanderung kam 1940 überhaupt nicht mehr in Betracht! Am 23.6.1941 wurde durch einen neuen Vertrag das Lager am Grünen Weg in Paderborn Einsatzlager. ,,Zweck dieses Lagers war”, so der Stadtdirektor Sasse im Brief von 1954, ,,die Juden im Dienste der Stadt oder sonstiger Arbeitgeber aus Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft zu beschäftigen.

 Und jetzt kommt die größte Frechheit: „Aus den Unterlagen des Einwohnermeldeamtes geht hervor, daß Sie in der Zeit vom 25.8.1940 bis 1.3.1943 für Grüner Weg 86 polizeilich gemeldet waren. Die Auflösung des Lagers erfolgte am 27.2.1943. Wo Sie als Angehöriger dieses Lagers im einzelnen beschäftigt wurden, kann hier nicht mehr festgestellt werden; wohl kann angenommen werden, daß Sie innerhalb der genannten Zeit für die Stadt gearbeitet haben, ob zeitweise oder dauernd, läßt sich heute mangels Unterlagen nicht mehr nachweisen.”

 Meine Damen und Herren! Es ist nicht meine Art, alles schief zu werten, aber wenn ich das hier wieder lese, dann muß ich Ihnen sagen, daß das ein Mann schreibt, ein Stadtdirektor, der mit den Damaligen mitgezogen hat, der sich nicht mehr erinnern kann, wo ich hier gearbeitet habe und was ich getan habe! Und dann geht es weiter: „In diesem Zusammenhang möchte ich bemerken, daß die Stadt mit Ihnen persönlich in keinem Dienst- oder Arbeitsverhältnis stand,  sondern nur mit der Reichsvertretung der Juden.” Nun frage ich Sie, meine Damen und Herren, wie konnte ich als Sklave, als vogelfreier Mensch mit einer Stadtverwaltung einen Arbeitsvertrag schließen, an dem ich überhaupt kein Interesse hatte, hier als Straßenfeger “umgeschult” zu werden.

,,Ich stelle Ihnen anheim, falls diese Angaben für Ihren Zweck nicht ausreichen, von Personen, die s.Zt. mit Ihnen zusammengearbeitet haben, entsprechende eidesstattliche Erklärungen anzufordern und diese bei Ihrer Dienststelle einzureichen. Ich bedaure, in dieser Angelegenheit keine weiteren Angaben machen zu können. (Sasse. I. Stadtdirektor).”  

 Meine Damen und Herren! Da ich damals im Öffentlichen Dienst war, brauchte ich eine Bescheinigung von der Stadt, daß ich hier öffentlichen Dienst geleistet hatte, wenn auch als Sklave. Aber da das in jenem dubiosen ,,Tarifvertrag” nicht verankert war, hat man mich auf sogenannte arische Mitarbeiter hingewiesen, zu denen ich gehen sollte, die teilweise bereits verstorben waren, um mir von denen eidesstattlich erklären zu lassen, daß ich damals im Öffentlichen Dienst gearbeitet hatte. Das, meine Damen und Herren, hat sich diese Stadt, in der ich heute lebe, das hat sich 1954 ein Stadtoberhaupt erlaubt, mir zu schreiben. Nun frage ich Sie, was hätten Sie, wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären, getan? Meine Selbstachtung hat nicht zugelassen, wie ein Bittsteller zu dieser Stadt zu kommen. Dazu bin ich viel zu stolz.

 Gestatten Sie mir einen weiteren Hinweis zu Herrn Sasse. Es gibt ein Dokument der Geheimen Staatspolizei, in dem dieser gleiche Stadtdirektor Sasse schreibt: „Wenn Sie uns nachweisen, daß dieses Lager von der Stadt bzw. den Städtischen Beamten übernommen worden ist, werden wir Ihnen Wiedergutmachung leisten.” Tatsache ist, daß die Geheime Staatspolizei – dieses Schreiben wurde im Archiv des Regierungspräsidenten in Detmold ausgegraben – bestätigt: ,,Da ist ein Jude Stern nach Paderborn gekommen und hat an demselben Tag dieses Lager an die Stadt übergeben.” Die Stadt hat bis heute aus diesem Faktum, aus diesem Widerspruch zu den Äußerungen des damaligen Stadtdirektors, keine Konsequenzen gezogen!

 Ich muß Ihnen sagen, als ich heute morgen die Schriftstücke wieder ausgekramt habe, ist mir durch meinen Kopf gegangen, ob man nicht doch einmal an diese Stadt herantreten sollte, um anzuklopfen, nicht um Wiedergutmachung einzuklagen, sondern um endlich einmal den Widerspruch aufklären zu lassen: auf der einen Seite die Erklärung des damaligen Stadtdirektors, auf der anderen Seite der Beweis durch die Geheime Staatspolizei. Ich will nur sagen, es ist in Paderborn, wie man so schön sagt, nicht alles koscher. Wer erwartet das auch? Nun, meine Damen und Herren, was will ich mit meinem heutigen Vortrag? Glauben Sie mir, ich will weder Haß säen noch habe ich irgendwelche Ressenti- ments gegen irgendjemanden. Ich möchte Versöhnung. Sie schließt aber für mich und auch für all die anderen ein, daß wir nicht vergessen dürfen. Vergessen kön- nen und wollen wir nicht! Ich möchte hier vom Gleichheitsprinzip her auch keinen schonen.

Es gab in Paderborn damals einen jüdischen Glaubensgenossen namens Louis Sternberg, Dieser hat sich überhaupt nicht anders benommen als mancher Parteigenosse. Er hat hier in Paderborn in einer sogenannten glaubensverschiedenen Ehe gelebt. Wegen dieser so privilegierten Ehe brauchte er keinen Stern zu tragen. Aber auch nach 1945 hat er sich gegen uns Juden über die Maßen schändlich benommen, wie ich es nicht anders sagen kann. 1948, als ich seine antijüdische Verhaltensweise erkannt hatte, bin ich gegen diesen Mann zu Felde gezogen, weil ich einfach nicht ertragen konnte, daß ein Mensch, ein Glaubensgenosse von mir, mit der sogenannten Entnazifizierung, die ja mehr oder weniger ein Bumerang war, sich nachträglich zu rechtfertigen versuchte. Er ist 1970 aus dem Judentum ausgetreten und liegt auf dem Ostfriedhof begraben. Stadtdirektor Sasse, mit dem Sternberg zusammengearbeitet hat, hat an seinem Grabe gesagt, es sei eine Gottesfügung gewesen, mit einem solchen Mann zusammenzuarbeiten. Wenn das eine Gottesfügung war, dann muß ich Ihnen sagen, verliere ich jeglichen Glauben …

 Ich muß Ihnen sagen, ich bin stolz darauf, ein Jude zu sein. Ich bin aber auch genauso stolz, mich entschieden zu haben, in dieser Bundesrepublik Deutschland als Deutscher zu leben – gegen den Rat meiner Verwandten, die mir gesagt haben: „Wie kannst Du in Deutschland unter Mördern leben?” Ich bin anderer Auffassung. Es gibt keine Kollektivschuld. Natürlich fällt bei mir manches Mal, wenn ich die Presse lese oder ins deutsche Fernsehen schaue, ein Wermutstropfen in den Wein. Wir sind ganz gewiß ein freiheitlich demokratischer Staat. Aber trotzdem ist es mir unverständlich, wie es eigentlich möglich ist, daß Menschen, die über einen gesunden Intellekt verfügen wollen, wie z. B. der Bürgermeister von Korschenbroich, sagen können, man müsse reiche Juden totschlagen, um einen Haushaltsetat auszubügeln. Oder wie kann in jüngster Zeit ein Pressesprecher der Bundesregierung im Range eines Ministers einfach von „internationalem Judentum” sprechen? Meine Damen und Herren, es gibt weder ein internationales Judentum, noch gibt es einen internationalen Katholizismus, noch gibt es einen internationalen Protestantismus.

 Ich trete für Toleranz und Versöhnung ein. Und weil dies so ist, habe ich mich 1987 bereiterklärt, eine christlich-jüdische Gesellschaft in Paderborn mitzugründen, ein Ereignis, worüber ich mich sehr gefreut habe. Ich wollte aktiv dabei sein, um noch vorhandene Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wir haben in Paderborn manches, ja vieles bewegt und werden dies auch weiterhin versuchen – alles, um eine Versöhnung zu erreichen. Es nützt nichts, wenn wir miteinander streiten. Es sollte uns möglich sein, allen Menschen klarzumachen, daß wir alle Gottes Geschöpfe sind, unabhängig von unseren Konfessionen. Es gibt nur einen Gott. Und es gibt ein unumstößliches Naturgesetz, wonach sich bei der Geburt keiner aussuchen kann, was er werden wird. Gerade weil dies so ist, ist es ein Nonsens, jemanden wegen seiner Hautfarbe, wegen seines Gesangbuches oder was auch immer zu verfolgen oder sogar zu töten.

 Es muß unser aller Aufgabe sein, für Juden und für Christen, sich an einen Tisch zu setzen und denen klarzumachen, die es nicht verstehen wollen, daß wir doch alle Gottes Geschöpfe sind, alle. Wenn wir das nicht tun, sondern nur zuschauen wollen, dann machen wir uns alle wiederum schuldig, daß wir in den Startlöchern der Passivität verharren, anstatt mit einem Aufschrei des Entsetzens dahin zu zeigen, wo Menschen verfolgt und getötet werden. Wir dürfen es nicht zulassen, daß wieder eine neue Via Dolorosa gebaut wird, auf der Menschen zu einem neuen Golgotha geführt werden. Manchesmal frage ich mich und andere: Haben wir überhaupt ein Recht darauf, uns auf dieser Erde Menschen zu nennen, wenn wir uns so verhalten? Müssen nicht die Toleranz und die Nächstenliebe bei uns so großgeschrieben werden, daß wir das Recht haben auf dieser Erde, auf der wir leben, uns Menschen zu nennen und daß wir das Recht haben, mutig in die Augen unseres Schöpfers zu schauen und zu sagen: Ja, wir sind wirklich Arbeiter im Weinberg Gottes. Das ist trotz meiner Verfolgung, trotz der Ermordung meiner engsten Verwandten durch die Nationalsozialisten mein Anliegen an jeden Menschen ohne Unterschied. Toleranz muß überall, nicht nur bei uns Juden, sondern auch bei Christen – oder wenn Sie wollen, auch umgekehrt – ganz groß auf die Fahne geschrieben werden. Ich kann Sie nur ganz herzlich bitten und dazu auffordern, sich überall dort für Menschen einzusetzen, die in der Gefahr sind, diffamiert zu werden. Nur so kann auch in Zukunft Toleranz und Versöhnung erfahren werden.

 Aus der Diskussion Frage:

 Warum formulieren Sie so zurückhaltend über beteiligte Personen? Angreß: Sie haben durchaus recht, aber Sie müssen eines verstehen: Ich möchte meinem Prinzip treu bleiben, nicht über Menschen zu urteilen, die sich hier nicht verteidigen können. Eine Ausnahme habe ich im Falle des Kardinals gemacht, weil das im direkten Zusammenhang mit dem Lager am Grünen Weg stand. Durch den Fall Sternberg wird klar, daß ich keinen schone, auch wenn es mein Glaubensgenosse ist. Der Grund ist folgender: Warum sollen sich Juden nicht genauso benehmen können wie andere auch? Warum kann ein jüdischer Deutscher nicht ein kriminelles Delikt begehen, ohne daß man ihm nachsagt, daß er ein Jude statt ein Deutscher ist. Ist ein Jude, nur weil er ein Jude ist, ein besserer Mensch? Nein, er ist Mensch wie jeder andere. Das wäre Normalität, wie ich sie verstehe. Frage:

 Wie beurteilen Sie das Verhalten der damaligen Politiker und Kirchenmänner, und wie verhielten sie sich nach 1945 Ihnen gegenüber?

Angres: Stadtdirektor Sasse war vor seiner Paderborner Tätigkeiten in Münster in der Kreisleitung. Er wußte natürlich sehr vieles und hätte konsequenterweise den obigen Brief an einen Hätling , der in Auschwitz war und der Gaskammer vorbeigegangen ist, nicht schreiben dürfen . Es ist in Paderborn vieles unter denTeppich gekehrt worden, ganz klar. Ich habe eine Einladund durch die Stadt zum 80. Geburtstag von Herrn Sasse bekommen . Ich habe ihm keine Referenz erwiesen. Ich habe auch seiner Eminenz Lorenz Kardinal Jäger weder zu seinem Priesterjubiläum noch zu seinen Geburtstagen irgendwelche Referenzen erwiesen. Ich habe meine Konsequenzen gezogen . Und das mache ich bis heute bei Stadtdirektor Sasse . Daß die Stadt Paderborn Jubelfeiern für Sasse veranstaltet , darüber wundere ich mich genau wie Sie . Vielleicht ist es noch nicht soweit vorgedrungen , wer Herr Sasse in der NS – Zeit war , das mag ja möglich sein . Aber es kann nicht meine Aufgabe sein , und es kann nicht Aufgabe der Jüdischen Kultusgemeinde Paderborn sein zu sagen , wie dies damals Emile Zola im Dreyfußprozeß gesagt hat : ,, Ich klage an.” Ich klage niemanden an . Ich will nicht vergessen , ich will nichts unter den Teppich kehren. Wir wolen  mieinander reden – vergessen keinesfalls -, aber das anklagen steht mir als Mensch, mir als dem kleinen Rädchen in diesem Getriebe auf der Welt nicht zu.Ich meine, Menschen sollten einander nicht anklagen. Ich  frage Sie, was muß im Zeichen des Kreuzes, im Zeichen des Herrn noch geschehen, damit Menschen überhaupt vernünftig werden und miteinander reden?

 Frage: Was wußten Sie damals? Können Sie noch mehr über die Situation im Lager am Grünen Weg sagen?

 Angreß: Wer von uns hat zur damaligen Zeit geahnt, was geschehen würde? Wer von uns kannte Auschwitz, wer von uns kannte Nordhausen und Bergen-Belsen!

 Zur Frage nach den Arbeitsbedingungen und zurn Leben im Lager: Ich möchte das etwas differenzieren. In Auschwitz z. B. bezahlte die IG-Farben für die Häftlinge 5 DM pro Tag. In Paderborn erhielten wir gemäß Unterlagen zunächst 19 Pfg. die Stunde, später will die Stadt angeblich mehr bezahlt haben. Das kann ich nicht überprüfen. Denn wir waren nicht in der RVO. Zum Beleg lese ich Ihnen ein Schreiben von Dr. Schmidt in der Marienstraße vor. Er hieß darnals der “Knochen-Schmidt”. Auch er wurde damals diffamiert, weil er SS-Sturmführer des Sanitätssturms war. Ich habe nach 1945 Herrn Dr. Schmidt bei der Entnazifizierung geholfen, weil es nicht den Tatsachen entsprach, was verschiedene Leute in Paderborn über ihn erzählten. Dr. Schmidt war den Lagerinsassen gegenüber sehr menschenfreundlich, woraus ihm Schwierigkeiten bei der SS erwuchsen. Nun die Bescheinigung von Dr. Schmidt vom 21.9.1954:   

 “Auf Veranlassung des Herrn Erwin Angreß erkläre ich nach bestem Wissen und Gewissen folgendes und ermächtige Herrn Angreß, meine Erklärung dem Verwaltungsgericht vorzulegen, dem ich auf Ladung mich auch als Zeuge zur Verfügung stelle.

 Etwa von Anfang 1940 bis Anfang 1943 bestand hier in Paderborn ein sogenanntes ‘jüdisches Umschulungslager’ am Grünen Weg. Seine Insassen nahmen in steigendem Maße meine ärztlichen Dienste in Anspruch, sodaß ich im Laufe der Zeit einen nicht unbeträchtlichen Teil des Lagers betreute.

 1) Die Insassen waren männlichen und weiblichen Geschlechts im Alter von etwa 18-23 Jahren.

 2) Die Patienten des Lagers waren meines Wissens nicht Mitglieder einer RVO-Kasse, wie es der Fall hätte sein müssen, wenn sie in einem regulär bezahlten Arbeitsverhältnis gestanden hätten. Sie mußten für die Kosten der ärztlichen Behandlung selber aufkommen. Sie verfügten aber über so geringe Geldmittel, daß ich mir, um den Forderungen der deutschen Arbeitsfront auf Rechnungserteilung nachzukommen, einen Pauschalbetrag von etwa 3.- RM insgesamt für alle vorkommenden Behandlungen und Patienten eines bestimmten Zeitraumes – etwa eines viertel bis eines halben Jahres – auszahlen ließ.

 3) Die Inanspruchnahme der Lagerinsassen in meiner Sprechstunde wurde häufig zeitlich kontrolliert, ebenso die Krankschreibungen. Jeder Patient wies sich für die Berechtigung der ärztlichen Inanspruchnahme durch einen befristeten und zweckgebundenen Urlaubsschein aus. Diese Kontrolle führte meiner Erinnerung nach der städtische Beamte Nargorny durch Telefonanruf bei mir durch.

 4) Ich habe häufig Krankschreibungen durchgeführt, um den durch Arbeitsleistung und mangelhafte Ernährung vollkommen erschöpften Insassen Gelegenheit zur Erholung zu geben.

 5) Sowohl in meiner Sprechstunde wie bei Besuchen im Lager habe ich niemals von den Insassen gehört, daß sie freiwillig im Lager geweilt hätten; im Gegenteil versicherten alle, daß sie gezwungen und kontrollierten Aufenthaltes seien. Das Lager war eingezäunt und mit einer Pforte versehen, die jeder passieren musste.

 Frage: Erhielten die Lagerinsassen Lohn für ihre Arbeit? Gab es Arbeitsverträge?

 Angreß: Die Firma Stute hat unseren Lohn an die Stadt Paderborn gezahlt, das Geld ging dann wohl an die Reichsvereinigung, die das Lager unterhielt. Privatgeld gab es nicht, wir waren ja billige Arbeitskräfte, wir waren vogelfrei. Sie haben ja den Brief von Stadtdirektor Sasse gehört. Ich hatte mit der Stadt keinen Arbeitsvertrag. Wie sollte ich dann einen Arbeitslohn aushandeln? Stellen Sie sich mal vor, Sie sind vogelfrei und gehen zu diesem Herrn Nagorny und sagen: Hören Sie mal, Herr Hauptsturmführer, ich möchte gern bei Ihnen arbeiten, vielleicht können Sie mir …, ich bin aber Jude.

 Die Firmen haben bei Herrn Nagorny Arbeitskräfte angefordert, und dieser hat dann gesagt: Ab morgen braucht die Firma Nölting 10 Leute zum Kohlenausladen. Bei der Firma Stute waren wir ständig beschäftigt, weil Herr Nagorny und Herr Stute ganz gut alliiert waren. Die Anforderungen für Arbeitskräfte in Paderborn gingen immer uber den Fuhrparkdirektor, Der sagte dann:  Morgen einen 10 Leute dahin, 20 Leute standig zur Mullabfuhr usw. Wir hatten keinen Einfluß auf die Einteilung. Wenn die Firmen Lagerinsassen angefordert haben, mußten wir marschieren. Im wörtlichen Sinn. Wir marschierten in der Kolonne Vom Grünen Weg über die Wollmarktstraße in die Bleichstralße zum Stätischen Fuhrpark. Eines schönen Tages im Herbst 1940 hat sich der sogennante Wollmarkt-Direktor Schramm beschwert, daß wir Krach gemacht hätten, Von Herrn Nagorny haben wir daraufhin die Auflage erhalten, nicht mehr über die Wollmarktstraße zu marschieren. Wir mußten vom Grünen Weg einen Unweg über die Bahnhofsbrücke machen, um in die Innenstadt zu gelangen, weil der Herr Wollmarkt-Direktor sich belästigt fühlte.

 Wir waren billige Arbeitskräfte, wir waren überhaupt einsatzfähige Arbeitskräfte, denn zur damaligen Zeit waren ja die Männer mehr oder weniger alle zur Front eingezogen. Russische Kriegsgefangene wurden auch in Paderborn eingesetzt, außerdem lebten in der Bleichstraße französische Kriegsgefangene. Auch die kamen zum Einsatz.

 Das jüdische Arbeitslager in Paderborn am Grünen Weg wurde am 1. März 1943 aufgelöst. Nach ,,Verhandlungen” zwischen der Stadt Paderborn und dem Juden Stern als Vertreter der jüdischen Bezirksleitung wurde das Lager am 9. März 1943 von der Stadt Paderborn übernommen. Wie man hört, waren dann russische Kriegsgefangene darin. Nachher ist das Lager wohl abgebrannt. Die Judischen Lagerinsassen – insgesamt 99 – wurden in Extrawagen nach Bielefeld transportiert, die an den fahrplanmäßigen Zug ab Paderborn am 1.3.43 um 8.24 Uhr angehängt wurden. In Bielefeld gab es im Saal des Vereinslokals ,Eintracht” ein Sammellager für Juden aus dem ganzen Bezirk. Bereits in der darauffolgenden Nacht vom 1. auf den 2. März 1943 wurden alle Juden zum Bielelelder Güterbahnhof gebracht und in Waggons gepfercht. Mit diesem Zug rollten wir dann nach Auschwitz… Nur 9 Personen haben überledt.

Anmerkungen

 1) Nach einem Tonbandmitschnitt des Vortrages am 29, November 1989. Zur Auswert ung der vorhandenen Quellen Zum Lager am Grünen Weg vgl. Margit Naarmann, Die Paderborder Juden 1802-1945, Paderborn 1988, S. 347-353.

 2) Der im Text nicht wiedergegeben werden kann, aber beim Vortrag vorgeführt wurde.

 3) Nach den Vortrag lud aufgrund der Presseveröffentlichungen Ewald Stute zu einem Gespräch ein, das  aus Krankheitsgründen des Verfassers erst Anfang März 1990 stttfinden konnte.

 4) In der “Woche der Brüderlichkeit” wurd Anfang März 1990 stattfinden konnte. Cwurde am 5. März 1990 auf Initiative der Gesellschalt für Chrisliche -Jüdische Zusammenarbeit endlich ein Denkmal zur Erinnerug an die Kinder und ihre Erzieher am Ort des ehemaligen jüdischen Waisenhauses, der Jeztigen Blindenschule, enthüllt.

Hrsg. Prof. Hubert Frankemölle
OPFER UND TÄTER
Uni PB 31 LPM 286+1